Out with the old (Market Investigation), in with the old (Sektoruntersuchung)? Kann Deutschland von den UK-Wettbewerbsbehörden lernen?

Der Referentenentwurf zu 11. GWB-Novelle sieht eine Stärkung von Sektoruntersuchungen in Deutschland vor. Ich habe die Diskussion mit Spannung verfolgt – nicht zuletzt weil ich die UK-Behörden (Competition and Market Authority - CMA - bzw. die Vorgängerin - Competition Commission oder CC) in drei solcher Untersuchungen über längere Zeit beraten habe (Groceries, Private Healthcare Remittal, Retail Banking).

Da die Sektoruntersuchung nach Referentenentwurf sich an das UK Vorbild der „Market Investigation“ anlehnt, lohnt sich ein Blick auf die Erfahrung im UK.

  • Vorweg: Während Market Investigations eine lange Tradition im UK haben, wurden sie seit Mitte der letzten Dekade kaum mehr genutzt. Und das, obwohl das Instrument mehrfach überarbeitet wurde. Ich vermute, dass die Zurückhaltung der CMA zumindest teilweise auf praktische Erfahrungen mit breit angelegten Untersuchungen (z.B. Energy, Retail Banking, Groceries) zurückgeht. Diese binden erhebliche Ressourcen, Abhilfen für komplexe Probleme sind oft nicht einfach zu finden und langwierige Gerichtsverfahren können das Instrument alles andere als schnell und effektiv machen.

  • „Market Investigations“ fügen sich in das breitere Aufgabengebiet „Märkte“ ein. Während die CMA umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten auf diesem Gebiet hat, nutzte sie (und die CC) ihre Befugnisse in der Vergangenheit vorrangig dazu, um sich über Märkte zu informieren und um Empfehlungen an Regulierer und Gesetzgeber auszusprechen, die Rahmenbedingungen (in den zumeist bereits regulierten Sektoren) wettbewerbskonformer zu gestalten. Kam es zu direkten Auflagen, lag der Schwerpunkt darauf, mündigere Kunden zu generieren, die die Verhaltensspielräume der Unternehmen stärker einschränken. Entflechtungen und direkte ergebnisbezogene Eingriffe (wie z.B. Preiskontrollen) waren äußerst selten. Während der Referentenentwurf die Entflechtung auch nur als ultima ratio sieht, ist weniger klar, ob das Bundeskartellamt einen ähnlichen Fokus auf den Konsumenten legen wird (und soll).

  • Der Befund eines AEC (adverse effect on competition), der Abhilfen auslöst, geht in der Regel auf klar umrissene ökonomische Schadenstheorien und umfangreiche ökonomische und ökonometrische Analysen hierzu zurück. Diese werden den Parteien (und der Öffentlichkeit) früh in der Untersuchung zur Verfügung gestellt. Die CMA quantifiziert auch typischerweise die Auswirkungen von Auflagen. Mögliche Auflagen werden weiter frühzeitig mit den Parteien diskutiert. Während die Anforderungen an Analyse, Quantifizierung und Transparenz den Verwaltungsaufwand von Market Investigations erheblich erhöhen, machen sie das Vorgehen der Behörden auch nachvollziehbar. Dies verbessert nicht nur die Berechenbarkeit, sondern wie ich argumentieren würde auch die Akzeptanz des Instruments.  Schließlich ist der Beginn (und Verlauf) einer Market Investigation an klare Regeln gebunden. Zumeist dient eine vorgeschaltete Market Study (auch Phase 1) als Filter. Viele Sektoren, in denen Bedenken aufgeworfen wurden, passieren diesen Filter nicht. Zu all diesen (wichtigen) Aspekten der UK Market Investigation findet sich im Referentenentwurf wenig.

Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung von Market Investigations seit 2004. Im Anschluss diskutiere ich die obigen Schlussfolgerungen, die auf öffentlich verfügbare Daten sowie meine Erfahrung mit dem Instrument zurückgehen.

Historische Entwicklung von Sektoruntersuchungen im UK

Sektoruntersuchungen sind seit langem fester Bestandteil des UK Wettbewerbskontrollregimes und sind Teil des Bereichs “Märkte”. Hier stehen den UK-Behörden verschiedene Instrumente zur Verfügung:

  • “Market Studies” (auch Phase 1) können von der CMA (oder Sektorregulatoren) auf eigene Initiative oder in Folge von Beschwerden initiiert werden. Sie dienen dazu einzuschätzen, ob eine Wettbewerbsbeeinträchtigung in einem Sektor wahrscheinlich ist.

  • Besteht ein begründeter Verdacht, dass Marktmerkmale den Wettbewerb „verhindern, einschränken oder verfälschen“, kann es zu einer vertieften Untersuchung, der “Market Investigation” (auch Phase 2), kommen.

  • Zusätzlich zu diesen zwei Instrumenten untersucht die CMA Märkte auch in eher informeller Form (z.B. Call for Information).

Die derzeit in Deutschland diskutierte Sektoruntersuchung ist der Market Investigation vergleichbar. Zwischen 2004 und 2022 haben CMA und CC 21 solcher vertieften Untersuchungen initiiert. 19 davon sind abgeschlossen. Die UK-Behörden haben also einige Erfahrung mit diesem Instrument gesammelt.

Die derzeitige Fassung des Instruments geht auf den Enterprise Act 2002 abgeändert durch den Enterprise and Regulatory Reform Act 2013 (ERRA13) zurück. Während die Grundstruktur im Wesentlichen gleich blieb, wurden über die Zeit eine Anzahl von im Wesentlichen verfahrenstechnischen Anpassungen vorgenommen. Das ERRA13 verkürzte die Untersuchungsperiode von 24 auf 18 Monate (wobei eine Verlängerung um 6 Monate bei komplexen Fällen möglich ist), bezog sektorübergreifende Wettbewerbsbedenken (“cross market references”) sowie Verweise aus öffentlichem Interesse mit ein und optimierte die Durchführung der Untersuchung, insbesondere hinsichtlich ihrer verschiedenen Stadien und der Interaktionen mit Parteien und Dritten. Schließlich wurde die Entscheidung über Abhilfemaßnahmen auf 6 Monate begrenzt. 2015 (Dauer der Auflagen) und 2017 (wesentliche Straffung der Prozedur)* kam es zu weiteren Anpassungen am Prozess.

Wie die Abbildung oben zeigt, schöpften die seit 2004 durchgeführten Market Investigations typischerweise den gesetzlich vorgesehenen Zeitrahmen aus. Die derzeitige Länge von 18 Monaten ist vergleichbar mit der in Deutschland diskutierten Ausgestaltung. Allerdings beginnt eine Market Investigation oft mit einer Market Study. Eine CMA Market Study addiert derzeit ein halbes Jahr. Viele der Market Studies führen nicht zu einer Market Investigation und sind damit ein wichtiger Filter. Sie dienen der Behörde außerdem dazu, sich über die Wettbewerbsgegebenheiten in einem Markt vertieft zu informieren, was sowohl bei einer folgenden Market Investigation als auch bei anderen späteren wettbewerbsrechtlichen Untersuchungen ggf. genutzt werden kann.

Auffällig ist, dass seit 2015 von der CMA kaum mehr vertiefte Sektoruntersuchungen initiiert wurden. Es ist von außen schwer zu beurteilen, worauf dies zurückzuführen ist. Zum einen mag die CMA während dieser Periode anderer Prioritäten gehabt haben. Es ist auch möglich, dass es schlicht nicht gelang, Märkte mit wettbewerbsbeschränkenden Merkmalen zu identifizieren. Auffällig ist allerdings auch, dass zwischen 2008 und 2009 eine weitere Lücke klafft. In beiden Fällen gingen dem fehlenden Engagement der CMA bzw. CC, mehrere umfangreiche Untersuchungen voraus (Groceries, PPI, BAA Airports in der früheren Periode und Energy und Retail-Banking in der späteren). Insbesondere die Energie- und Retail-Banking-Sektoren haben auch gezeigt, dass sehr breit angelegte Untersuchungen schwer zu managen sind. Dies mag ein Faktor sein, warum die CMA jüngst nach einer breiten Market Study zu Mobile Ecosystems einen Verweis nur für ein enges Segment daraus, nämlich Mobile Browsers and Cloud Gaming, erteilte. Es bleibt zu beobachten ob engere Untersuchungen in Zukunft dieses Instrument wieder attraktiver für die CMA machen.

Transparenz und Ressourcenintensität

CMA Market Investigations haben für Unternehmen auch ohne mögliche Auflagen (dazu weiter unten) nicht unerhebliche Kosten in Form der sich daraus ergebenden Informationsanforderungen und der Interaktion mit der Behörde. Sie sind aber auch für die Behörden selbst sehr ressourcenintensiv.**

Die CMA führt ihre Untersuchungen relativ “offen” und „analysegesteuert“ durch. Eine Vielzahl von Parteien und Dritten werden einbezogen. Ökonomische Schadenstheorien werden frühzeitig formuliert (und kommuniziert) und lenken die weitere Untersuchung. Der Konsumentenschaden und Auswirkungen von Auflagen werden quantifiziert. Komplexe ökonomische und ökonometrische Analysen sind die Regel. Diese verwenden sowohl historische Daten der Unternehmen sowie neu erhobenen Marktbeobachtungen.

Die CMA veröffentlicht Zwischenschritte ihrer Untersuchung regelmäßig. Dabei handelt es sich nicht nur um zusammenfassende Einschätzungen und Ergebnisse. Auch technische Details und die zugrundeliegenden Daten und Programme werden oft während der Untersuchung in Working Papers und Datenräumen zugänglich gemacht. Dies gibt den Beteiligten Gelegenheit darauf zu erwidern. (Unter https://www.gov.uk/cma-cases/review-of-banking-for-small-and-medium-sized-businesses-smes-in-the-uk kann man z.B. einsehen, was die CMA zu welchem Zeitpunkt der Retail-Banking Investigation veröffentlicht hat.)

Während eine analyse- und datengetriebene sowie weitestgehend offene Untersuchung den Aufwand für Behörden und Parteien (deutlich) erhöht, verbessert sie auch die Transparenz und damit die Berechenbarkeit und Akzeptanz der Entscheidungen nicht unerheblich.

AECs

Tatsächlich haben alle außer einer der Market Investigations seit 2004 (Movies on Pay TV) einen oder mehrere AECs gefunden.

Am häufigsten (79% der abgeschlossenen Market Investigations) war ein geringes Engagement der Kunden im wettbewerblichen Prozess laut CMA bzw. CC Grund dafür, dass der Wettbewerb nicht gut funktionierte. Fehlende oder schwer zu erwerbende Information, komplexe Produkte oder (tatsächliche oder empfundene) Wechselkosten wurden u.a. dafür verantwortlich gemacht, dass Kunden keine Preiskontrolle ausüben, für sich ungünstige Produkte wählen oder den Anbieter nicht wechseln.

Technische Anforderungen, Bestandsvorteilen, Regulierungen oder ähnlichen Eintrittsbarrieren, die nicht von der Kundenseite ausgingen, waren der zweithäufigste Grund für einen AEC (63%).

Selten ging der von den Behörden gefundene AEC von der Marktkonzentration selber aus. Auch kollusive Tendenzen oder andere Gründe waren selten.

Auflagen

Ähnlich wie im Referentenentwurf vorgesehen, hat auch die CMA weitgehende Befugnisse, im Falle eines AEC Abhilfe zu schaffen. Die Auflagen können die Form einer Anordnung der Behörde (“Order”), von Verpflichtungszusagen seitens der Unternehmen (“Undertakings”) oder Empfehlungen an Gesetzgeber und Regulierer sowie Industrievereinigungen annehmen. Eine Durchsicht der auf der CMA-Website veröffentlichten Dokumente zeigt, dass die CMA dabei bestimmte Typen von Auflagen präferiert.

Tatsächlich nutzte die CMA ihre Befugnisse sehr häufig dazu (68% der abgeschlossenen Market Investigation), konkrete Empfehlungen an Regulierer und den Gesetzgeber auszusprechen, wie Regelwerke angepasst werden sollten, um den Wettbewerb zu verbessern. Dabei ist zu beachten, dass viele der Sektoren vor der Untersuchung bereits reguliert wurden (Energie, Transport, Finanzmärkte, …) und die CMA bzw. CC hier das bestehende Regelwerk kritisch hinterfragte.

In 74% der Untersuchungen wurden Unternehmen und Industrieverbänden Maßnahmen auferlegt, die das Engagement der Kunden im wettbewerblichen Prozess stärken sollten, d.h. Kunden ermächtigen, Verhaltensspielräume der Unternehmen stärker einzuschränken. Die Auflagen der Behörden zielten darauf, es den Kunden so einfach wie möglich zu machen, sich über Wettbewerbsparameter zu informieren (74%), Anbieter zu wechseln (26%) und die für sie richtige Produktauswahl zu treffen (26%).*** Dabei wurden von der CMA im Laufe der Zeit vermehrt verhaltensökonomische Erkenntnisse einbezogen.  

In 32% der Untersuchungen zielten die Auflagen darauf, (nicht von der Kundeseite ausgehende) Marktzutrittsbarrieren zu eliminieren.

Eine direkte Kontrolle der Ergebnisse des wettbewerblichen Prozesses war selten. Nur in 3 Fällen (Home Credit, Classified Directory Advertising Services, Energy) kam es zu direkten Preiseingriffen, 2 davon betrafen besonders exponierte (vulnerable) Kunden (Home Credit, Energy). In einem Fall (Groceries) wurden Nutzungsbeschränkungen in Grundstücksverträgen aufgehoben. Nur in 2 Fällen (BAA Airports und Aggregates, Cement and Ready-Mix Concrete) wurden Entflechtungen angeordnet.

Die verbleibenden Auflagen betrafen Praktiken gegenüber Lieferanten (1x) sowie eine Reduktion der Markttransparenz aufgrund von Bedenken über kollusives Verhalten (1x).

Während anhand der Daten keine Aussagen über die Auswirkungen der Auflagen auf den Wettbewerb gemacht werden können, zeigt die erste Abbildung oben allerdings, dass Entflechtungen schwerfällig sind, da sie immer angefochten wurden und die Zeit bis zur letztendlichen Umsetzung daher in der Praxis mehrere Jahre betrug.

 


* https://www.gov.uk/government/news/cma-to-introduce-market-investigation-changes

** Die CMA war in der Vergangenheit relativ flexibel darin externe Berater einzubeziehen. Dies hilft bei Spitzen, wie sie z.B. die Kombination der Energie-, Retail-Banking und Private Healthcare Remittal Investigation generiert hat, Kapazitätsengpässe zumindest teilweise aufzufangen.

*** Eine eindeutige Einteilung in eine dieser Unterkategorien ist nicht immer möglich und die Zahlen sollten daher nur approximativ verstanden werden.

Quelle: https://www.gov.uk/cma-cases, Case type “Markets”

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